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Die Bücher sind überall erhältlich, wo es Bücher und eBooks gibt.

Hinweis: Die Handlung und Personen meiner Bücher sind frei er­funden. Eventuelle Übereinstimmungen 
mit lebenden oder toten Personen wären zufällig und sind nicht be­absichtigt.

Leseprobe - "Seerosenzauber"

 

 1. Maja - Freitag

»Nein«, grummle ich verschlafen, als das ohrenbetäubende Klingeln meines Handyweckers ertönt. 

Als ich damals den Rufton eingestellt hatte, fand ich ihn perfekt. Seitdem bereue ich es jeden Morgen, wenn mich dieser Lärm um Punkt acht Uhr aus dem Schlaf reißt. 

Ich würde ihn nur allzu gern durch einen weniger nervigen Ton ersetzen, allerdings habe ich Zweifel, ob ich davon auch wach werde. 

Hektisch taste ich nach dem Handy, das auf meinem Nachttisch liegt, und tippe auf dem Display herum. 

Nachdem der Klingelton endlich verstummt, atme ich erleichtert auf und überwinde mich, die Augen zu öffnen. 

Ich springe aus dem Bett und schleiche nach unten. Im Haus herrscht eine angenehme Stille. 

Mein erster Weg führt mich in die Küche zur Kaffeemaschine, die nur noch eingeschaltet werden muss. Im Laufe der Zeit habe ich mir angewöhnt, sie am Vorabend vorzubereiten. So kann ich mich in meine Sportklamotten werfen, bis der Kaffee durchgelaufen ist. 



*** 



Eine halbe Stunde später verlasse ich mit Koffein im Blut das Haus. Wie jeden Morgen laufe ich langsam zum Park. Unterwegs begegnen mir täglich die gleichen gestressten Menschen, die auf dem Weg zur Arbeit sind. Mein Arbeitstag beginnt in etwas mehr als zwei Stunden. 

Im Park ist von der Hektik nichts zu spüren. Es ist, als würde man eine neue Welt betreten. Bis auf ein paar andere Jogger und wenige Hundebesitzer, die ihre vierbeinigen Lieblinge ausführen, bin ich allein und genieße die frische Morgenluft. Der kleine See liegt friedlich vor mir. Die Blüten der zahlreichen Seerosen sind noch halb geschlossen. Sie öffnen sich langsam und werden ihre volle Pracht erst zeigen, wenn ich den Park längst verlassen habe. Leider verpasse ich den Seerosenzauber an den meisten Tagen. 

Ich erhöhe mein Tempo und versinke in meinen Gedanken. Wie so oft träume ich von meinem eigenen Restaurant. Ich male mir bis ins kleinste Detail aus, wie es aussehen soll und welche Gerichte ich unbedingt auf die Speisekarte setzen will. Jedes Mal sieht mein Laden anders aus und auch die Speisen variieren. Es gibt so viele Möglichkeiten, dass es mir schwerfällt, mich zu entscheiden. Natürlich macht das keinen Unterschied, weil es sich um einen Traum handelt, der noch lange nicht greifbar ist. 

Seit ich denken kann, will ich nur kochen. Zu einem kleinen Teil konnte ich mir den Traum schon erfüllen. Die Ausbildung zur Köchin habe ich abgeschlossen und arbeite nun in einer Küche. Leider habe ich dort nichts zu melden. Ich bin nur eine von vielen, die Anweisungen befolgen muss. Kreativ ist nur der Küchenchef. Er ist der Einzige, der neue Rezepte entwickeln darf. Wir anderen müssen seine Kreationen nach Anweisung zubereiten. So hatte ich mir meinen Traumjob nicht vorgestellt. Dafür ist die Bezahlung anständig und bringt mich meinem Traum ein Stück näher. Jeden Monat lege ich einen Großteil meines Gehalts zur Seite. Zum Glück muss ich keine Miete bezahlen, da ich im Haus meiner Großeltern lebe. 

Ich bleibe stehen, schaue in den Himmel und seufze. Der Mensch, dem ich meine Leidenschaft zum Kochen verdanke, wird das alles nicht mehr miterleben. Meine Oma ist vor acht Jahren an Herzversagen gestorben. Nichts hatte darauf hingedeutet. Im Gegenteil. Anneliese Blum war einer der fittesten Menschen, die ich kannte. Von ihr konnte sich so manch einer der jüngeren Generationen eine Scheibe abschneiden. Sie war wie ein Wirbelwind. 

Ich liebte es, mit ihr zusammen in der Küche zu stehen. Trotz meiner Lehre lernte ich von ihr noch einige Kniffe. Ihre Rezepte waren einzigartig. Bereits als kleines Mädchen faszinierte es mich, ihr dabei zuzusehen, wie sie uns die leckersten Speisen zubereitet hatte. 

Bei dem Gedanken an unsere gemeinsame Zeit kommen mir die Tränen. 

Bevor ich sie mir von den Wangen wischen kann, werde ich hart zur Seite gestoßen. Ich falle hin. Zum Glück ist der Aufprall gedämpft, da ich im Gras lande. 

Ich schaue mich nach dem Übeltäter um, in der Erwartung jemand würde mit schuldbewusster Miene vor mir stehen und sich für sein Verhalten entschuldigen. Doch da ist keiner, zumindest nicht in meiner unmittelbaren Nähe. 

Ich kann nur die Rückansicht eines Joggers erkennen, der sich von mir entfernt. Sonst sehe ich niemanden. Also muss er mich zur Seite gestoßen haben. 

»Hey, du Idiot!«, brülle ich ihm hinterher. 

Doch er reagiert nicht. Entweder hat er mich nicht gehört oder er ignoriert mich konsequent. 

Kopfschüttelnd schaue ich ihm nach, bis er aus meinem Sichtfeld verschwunden ist. 

Wütend erhebe ich mich und untersuche meinen Körper auf Verletzungen. Bis auf ein paar Grasflecken auf der Hose scheine ich unbeschadet davon gekommen zu sein. 

Um sicherzugehen, lege ich die ersten Meter langsam zurück, bevor ich wieder in einen Laufschritt verfalle und mein Tempo wiederfinde. 

Gedankenverloren laufe ich weiter, bis ich an einer Bank einen Jogger wahrnehme, der dabei ist, sich zu dehnen. 

Seine Kleidung kommt mir bekannt vor. Er trägt die gleiche schwarze Hose und ein T-Shirt im identischen Blauton, wie der Flegel, der mich vor wenigen Minuten zur Seite gestoßen hat. Auch seine Rückansicht stimmt überein. 

Wutentbrannt stürme ich auf ihn zu, stemme meine Hände in die Hüften und schreie ihn an. »Was stimmt mit Ihnen nicht? Erst schubsen Sie Menschen um und dann halten Sie es nicht für nötig, sich zu entschuldigen! Ich hätte mir sonst was brechen können und Sie hätten mich einfach da liegen lassen. Schämen sollten Sie sich!« Mir liegen noch sämtliche Schimpftiraden auf der Zunge, die ich abfeuern möchte, doch als der Typ sich umdreht, verstumme ich. Er ist der bestaussehende Kerl, der mir je begegnet ist. Seine braunen Augen mustern mich von Kopf bis Fuß. Es fühlt sich an, als würde ich nackt vor ihm stehen. 

Während er mich betrachtet, tue ich es ihm gleich und lasse meine Augen über seinen muskulösen Körper wandern. Ich schaffe es gerade noch, ein entzücktes Seufzen zu unterdrücken. 

Dem Fremden ist sein gutes Aussehen durchaus bewusst. Er schenkt mir ein wissendes Grinsen, bevor er den Mund öffnet. »Reden Sie mit mir?«, fragt er scheinheilig. 

Ich atme tief durch und sammle mich. »Sehen …«, piepse ich. 

Das ermutigt den Kerl, noch breiter zu grinsen. 

Seine Arroganz macht mich wütend. 

Ich räuspere mich und setze zu einem neuen Versuch an. »Sehen Sie hier noch jemanden?«, frage ich mit fester Stimme. »Sie haben mich da hinten«, ich deute mit dem Finger in die Richtung, aus der ich gekommen bin, »einfach umgestoßen und sind weitergelaufen, als ob nichts geschehen wäre! Wollen Sie das jetzt etwa abstreiten?« 

»Nein, ich will gar nichts abstreiten.« 

»Also geben Sie es zu?«, frage ich verwundert. 

»Nein.« 

Ich starre ihn ungläubig an. »Sondern?« 

»Nichts. Ich muss mich für nichts rechtfertigen, was ich nicht getan habe«, antwortet er noch immer grinsend. 

Für einen Moment bin ich unsicher, ob er wirklich der Täter ist. Allerdings glaube ich nicht an Zufälle. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn es zwei Typen von dieser Sorte gäbe. Doch ich habe keine Beweise für das, was er getan hat. Zeugen gab es keine. Also steht Aussage gegen Aussage. Somit ist es sinnlos weiter mit ihm zu diskutieren. 

Wutschnaubend straffe ich die Schultern und gehe wortlos an dem Typen vorbei. Ich spüre seinen Blick in meinem Rücken. Es fühlt sich unangenehm an. Damit ich seinen Blicken schneller entkommen kann, beschleunige ich mein Tempo in einen ordentlichen Laufschritt. 

Obwohl meine Joggingrunde eigentlich noch nicht beendet ist, beschließe ich den Heimweg anzutreten. Ich will raus aus dem Park. 

Ich nehme den nächsten Pfad, der aus dem Park auf die Straße führt, und quäle mich durch die überfüllten Straßen. Zwischendurch muss ich etlichen Menschen ausweichen. 


*** 


»Guten Morgen, meine Kleine!«, begrüßt mich mein Großvater, als ich wenig später die Küche betrete. 

Er sitzt bereits am Küchentisch und schlürft seinen ersten Kaffee. 

»Morgen, Opa«, erwidere ich, während ich zu ihm gehe und ihm einen Kuss auf die Wange gebe. 

»Du bist aber heute früh zurück«, stellt er fest. »Ist alles in Ordnung?« Er schaut mich mit einer Mischung aus Neugier und Sorge an. 

»Ja, es ist alles gut. Ich wollte vor der Arbeit nur noch etwas erledigen«, rede ich mich raus. 

Ich kann meinem Großvater ansehen, dass er mir nicht glaubt, doch er sagt nichts. Er kennt mich eben gut genug und weiß, wie sinnlos es ist, mich in die Enge zu treiben. 

»Wo ist Waldi?«, frage ich, um vom Thema abzulenken. 

»Ich schätze, in seinem Körbchen.« 

Ich nicke wissend. 

»Warst du mit ihm draußen?«, erkundige ich mich. 

»Ja.« 

Ich weiß, dass die beiden nur vor der Tür waren. Wenn Waldi nicht gerade in der Küche ist, um zu fressen, schläft er am liebsten. Der Dackel ist mit seinen elf Jahren nicht mehr der Jüngste und das zeigt er auch. Früher konnte ich mit ihm stundenlang spazieren gehen. Inzwischen bin ich froh, ihn überhaupt nach draußen zu bekommen, damit er sein Geschäft verrichtet. Ab und zu lässt er sich zu einer winzigen Gassirunde überreden, aber nur, wenn die Bedingungen stimmen. Es darf nicht regnen oder zu kalt sein. 

»Ich springe schnell unter die Dusche«, sage ich und haste die Treppe nach oben. 

»Gut, ich mache uns Frühstück«, ruft mein Opa mir hinterher. 

Normalerweise hat er den Tisch bereits gedeckt, wenn ich vom Joggen zurück bin. Das hat sich im Laufe der Zeit so ergeben. Früher hatte meine Oma das Frühstück für uns gemacht. Nach ihrem Tod habe ich es eine Weile übernommen. Doch irgendwann hat mein Opa sich der Sache angenommen. Er meint, ich hätte genug zu tun und er bräuchte auch ein paar Aufgaben. Also überließ ich es ihm. Im Grunde bin ich über jede Kleinigkeit froh, die er mir abnimmt. Inzwischen ist er mit seinen 79 Jahren nicht mehr der Jüngste. Leider macht sich das immer häufiger bemerkbar. In den letzten Jahren ist er ziemlich vergesslich geworden. 

Ich habe schon mehrfach versucht, ihn zum Arzt zu schleppen, aber er weigert sich konsequent. In dem Punkt ist mein Opa August stur, wie ein Maulesel. Er meint, dass alles kommt, wie es kommen muss und die Menschen früher auch nicht wegen jeder Kleinigkeit zum Arzt gegangen sind. 

Meine Argumentation interessiert ihn nicht. Obwohl es sinnlos ist, gebe ich nicht auf und versuche, ihn in regelmäßigen Abständen zu einem Arztbesuch zu überreden. 


*** 


»Ich muss los«, sage ich erschrocken, als ich einen Blick auf meine Armbanduhr werfe. In einer halben Stunde muss ich auf der Arbeit sein. Da das Restaurant auf der anderen Seite der Stadt liegt, wird es knapp, rechtzeitig zu meiner Schicht anzukommen. 

Beim Thema Pünktlichkeit versteht der Küchenchef keinen Spaß. Er ist generell ein humorloser Mensch. Seit ich ihn kenne, habe ich ihn noch nie lächeln sehen. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, ob er dazu überhaupt in der Lage ist. Dafür ist Schreien eine Disziplin, die er perfekt beherrscht. Er brüllt jeden in seiner Küche an, selbst um jemandem etwas mitzuteilen. Als ich in dem Laden anfing, war der Umgang viel herzlicher. Der ehemalige Chef Bill wurde niemals laut, sogar wenn jemand den größten Mist gebaut hatte, blieb er ruhig. Mit ihm zu arbeiten hatte mir immer Spaß gemacht. Deshalb war ich glücklich, dass er mich nach der Lehre als Köchin eingestellt hatte. 

Leider ist er vor einem Jahr in Rente gegangen. Ich hätte den Laden gerne übernommen. Nur fehlte mir das nötige Kleingeld, um ihm alles abzukaufen. Also musste er sich nach einem anderen Käufer umsehen. Es gab nicht allzu viele Interessenten. Am Ende war Bill froh, als Eduard auftauchte und das Restaurant übernahm. Mit ihm wechselte nicht nur der Name von Bills Gasthaus in Eduards. Auch die Küche änderte sich von einer bodenständigen in eine gehobene. 

Obwohl Eduard so ein Griesgram ist, lieben die Gäste seine Kochkünste. Von seinem ersten Tag an war das Restaurant besser besucht als bei Bill. 

Erst vermutete ich, die Leute würden aus Neugier kommen. Vielleicht taten sie es auch, aber da der Ansturm bis heute so geblieben ist, muss es an der Küche liegen. 

Selbst der angrenzende Saal ist dauerhaft ausgebucht. Die Leute feiern dort Geburtstage, Hochzeiten und Jubiläen. So weit ich zurückdenke, kann ich mich nicht daran erinnern, dass es unter Bills Herrschaft jemals so gewesen war. Wenn es zwei Buchungen im Monat gab, war es schon viel. 

Mittlerweile wird der Saal sogar wochentags gebucht. Das gab es früher nie. 

Ich erhebe mich, verpasse meinem Opa einen Kuss auf die Wange und stürze aus dem Haus. Zum Glück läuft mein Wagen wieder, sodass ich nicht auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen bin. 

In der letzten Woche stand mein kleines in die Jahre gekommenes Auto in der Werkstatt und ich verbrachte viel Zeit an Bushaltestellen. Mein Arbeitsweg hatte wesentlich länger gedauert. Gefühlt gibt es Hunderte von Haltestellen, die der Busfahrer von einem Ende der Stadt bis zum anderen Ende ansteuert. Auch das Einkaufen war anstrengend. Nicht nur, weil die Bushaltestelle ein Stück vom Supermarkt entfernt ist. Es ist auch gewöhnungsbedürftig, die Einkäufe mit sich rumschleppen zu müssen, statt sie einfach auf dem Supermarktparkplatz in den Kofferraum zu räumen und sie vor der Haustür wieder rauszuholen. 

Der KFZ-Mechaniker hatte mir mitgeteilt, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis mein Auto erneut liegen bleibt. Er hatte mir zuvor schon von einer Reparatur abgeraten. Aber der Kauf eines neuen Autos kostet Geld. Es würde meine Ersparnisse schmälern. Natürlich werde ich irgendwann ein anderes Auto anschaffen müssen. Spätestens, wenn ich selbstständig bin, brauche ich ein zuverlässiges Fahrzeug. 

Wenn ich ehrlich bin, versuche ich die Neuanschaffung so lange hinauszuzögern, wie es geht, da es sich bei dem schrottreifen Gefährt um mein erstes Auto handelt. Ich habe es damals von meinen Großeltern geschenkt bekommen. Meine Oma hatte es hauptsächlich ausgesucht. Das macht mir die Trennung besonders schwer. Es ist, als würde ich einen Teil von ihr mit dem Fahrzeug zusammen weggeben. 

Ich starte den Motor und bin erleichtert, als mein Wagen gleich beim ersten Versuch anspringt. 


*** 


»Schön, dass du auch schon kommst!«, schreit mich Eduard an, als ich in Küchenmontur die Küche betrete. 

Ich sage nichts. Immerhin hat meine Schicht vor fünf Minuten begonnen. 

Dafür, dass auf den Straßen heute so viel los war, bin ich relativ gut durchgekommen. Hätte ich mich nicht noch umziehen müssen, wäre ich rechtzeitig in der Küche gewesen. 

Am liebsten möchte ich Eduard für seine Kleinlichkeit in die Schranken weisen. Aber ich verkneife es mir. Eduard hat nicht nur seine Prinzipien, gleichzeitig fällt es ihm schwer, Kritik einzustecken. 

Vor einigen Monaten beschwerte sich ein Gast. Er meinte, sein Fisch wäre noch roh. Statt sich bei ihm zu entschuldigen, diskutierte Eduard so lange mit ihm, bis er entnervt das Restaurant verließ. Als Köchin weiß ich, dass der Gargrad so gewollt war, aber ich verstehe auch, wenn Menschen ihren Fisch richtig durchgegart haben wollen. Geschmäcker sind eben verschieden. 

Die meisten Kellner versuchen, die Kritik von unserem Küchenchef fernzuhalten. Das funktioniert allerdings nur so lange, wie der Gast keine Nachbesserung fordert. Wenn ein voller Teller zurück in die Küche gebracht wird, bekommt Eduard das mit. Er kann noch so beschäftigt sein, das entgeht ihm nie. Es ist fast, als hätte er ein Radar dafür, der anschlägt, sobald etwas nicht stimmt. 

Ich stehe vor ihm und schaue betreten zu Boden. 

»Was ist? Brauchst du eine Extraeinladung? Oder schaffst du es an deinen Arbeitsplatz?« Er deutet mit dem Messer in seiner Hand auf die andere Seite der Küche. 

Statt einer Antwort nicke ich ihm zu und eile davon. 

Bevor der Betrieb richtig losgeht, müssen sämtliche Vorbereitungen getroffen werden. Das sind die Momente, in denen ich mir vorkomme, als wäre ich eine Küchenhilfe statt einer ausgebildeten Köchin. Wie jeden Tag liegt auf meinem Arbeitsplatz jede Menge Gemüse, das geschnippelt werden muss. 

Neben mir steht mein Kollege John und ist dabei, Fisch zu filetieren. 

Er schaut zu mir und nickt mir mitleidig zu, bevor er sich wieder seiner Arbeit widmet. 

Wir trauen uns beide nicht, während der Arbeitszeit zu reden. Eduard sieht es überhaupt nicht gern, wenn in seiner Küche Privatgespräche stattfinden. Ein »Wie geht es dir?« ist ihm schon zu viel. Wenn seine Köche miteinander sprechen, dann darf es nur um berufliche Dinge gehen, dabei sollte möglichst laut geredet werden, damit der Küchenchef auch alles mitbekommt. 

Private Gespräche müssen wir uns für die Pausen aufheben. 

Das Arbeitsklima ist rau, wenn Eduard da ist. Und er ist so gut wie immer in der Küche. Er kommt vor uns und geht erst nach uns. Manchmal habe ich den Verdacht, er schläft hier. Vielleicht hat er in irgendeinem Regal einen Schlafsack versteckt, den er hervor holt, sobald wir weg sind. Anders kann ich mir nicht erklären, dass er fast täglich eine neue Kreation auffährt. Während des Kundenzulaufs kommt er kaum zum Experimentieren. Das geschieht immer nach Ladenschluss. Die Köche müssen am nächsten Tag vor Dienstbeginn seine neuesten Experimente bewerten. Manches ist wirklich sehr lecker, aber die meisten seiner Schöpfungen sind eher gewöhnungsbedürftig. 

Durch meine Verspätung bin ich wohl um ein Urteil herumgekommen. Die anderen werden die Verkostung bereits hinter sich gebracht haben. 

Normalerweise bin ich eine Viertelstunde vor Dienstantritt hier. Heute bin ich das erste Mal zu spät gekommen. Ich weiß nicht, warum ich die Zeit beim Frühstück aus den Augen verloren hatte. Vielleicht liegt es an dem Sturz, der mir von diesem arroganten Fremden beschert wurde. 

»Maja!«, lässt mich eine laute Männerstimme an meinem Ohr zusammenzucken. Obwohl ich mir angewöhnt habe, in der Küche Ohrenstöpsel zu tragen, ist die Stimme des Küchenchefs immer noch deutlich genug, um mich zu erschrecken. Wenn ich mir nichts in die Ohren stecken würde, wäre ich längst taub. Den Tipp hat mir John gegeben. Er benutzt die Dinger seit dem zweiten Tag. 

Ich drehe mich ruckartig um und sehe Eduard mit einem Teller vor mir stehen. 

Am liebsten möchte ich ihn schütteln und ihn genauso ins Ohr schreien, wie er es bei mir gemacht hat. Nur wird es ihm nichts ausmachen. Er wird im Laufe der Zeit durch seine eigene Stimme taub geworden sein. Auf Dauer kann diese Schreierei niemand aushalten. 

Ich setze ein gequältes Lächeln auf und starre auf den Teller. Darauf liegt … 

Nun ja, was ist das eigentlich? 

Zwischen zwei hellgrünen biskuitartigen Schichten befindet sich eine weiße Creme. 

Eduard nickt mir aufmunternd zu. »Probier!«, fordert er mich lautstark auf. 

Zaghaft greife ich nach dem quadratischen Etwas und schnüffele daran. Es fällt mir schwer, die Gerüche zuzuordnen. 

Vorsichtig beiße ich ein Stück ab und kaue darauf herum. Das Grüne fühlt sich im Mund tatsächlich an wie Biskuit. Die weiße Masse ist zäh, wie Schmelzkäse ohne Schmelz und so schmeckt es auch. 

Eduard schaut mich erwartungsvoll an. 

Ich zwinge mich zu einem Lächeln und beiße noch ein Stück ohne die Creme ab. »Brokkoli?«, stelle ich fragend fest. 

Eduard nickt mir aufmunternd zu. 

»Ein Brokkoli-Biskuit mit Käse-Creme?«, rate ich. 

Eduard klatscht freudig in die Hände. »Und?«, fragt er. 

Ich überlege, wie ich ihm die Wahrheit möglichst schonend beibringen kann, ich darf nicht allzu viel Kritik ausüben. 

»Na ja, das Biskuit ist angenehm im Mund. Der Geschmack ist …« Durch meinen Kopf rattern verschiedene Adjektive. 

Abartig. Ekelhaft. Widerlich. Unnütz. Ungenießbar. Eigenartig. Merkwürdig. 

Alle Adjektive klingen zu kritisch. Ich muss sie abmildern, ohne die Bedeutung aus den Augen zu verlieren. 

Ungewohnt. Außergewöhnlich. Ungewöhnlich. 

Eduard schaut mich immer noch fragend an. 

Aus den Augenwinkel kann ich Johns mitleidigen Blick sehen. 

Ich drehe meinen Kopf ein Stück weiter in seine Richtung. Meine Augen flehen ihn um Hilfe an. 

Doch John deutet nur ein Kopfschütteln an. 

»Exotisch«, rutscht es aus meinem Mund, bevor ich genauer darüber nachdenken kann. »Ein bisschen wie Brokkolikuchen. Und die Füllung schmeckt nach Schmelzkäse. Sie könnte noch etwas weicher sein«, wage ich zu sagen. 

Eduard schaut mich nachdenklich an. »Exotisch? Brokkolikuchen? Weicher?«, murmelt er vor sich hin, allerdings so laut, dass es in der ganzen Küche zu hören ist. 

Er dreht sich von mir weg und geht kopfschüttelnd zurück zu seinem Platz. 

John grinst mich an. »Gut gemacht«, formt er mit seinem Mund, ohne auch nur einen Ton zu verlieren. 

Ich zucke mit den Achseln und widme mich den Auberginen, die vor mir liegen und in Scheiben geschnitten werden wollen. 


*** 


»Ernsthaft, Maja?«, fragt Maike leise lachend, nachdem John mein Testurteil zum Besten gegeben hat. »Exotisch?« 

Wir stehen zu viert im Hinterhof und genießen unsere Verschnaufpause nach dem Mittagsansturm. Leider können nur zwei aus der Küche und zwei der Servicemitarbeiter gleichzeitig Pause machen. Ein Teil der Crew muss immer bereitstehen, weil vereinzelt Gäste kommen und Vorbereitungen getroffen werden müssen. 

Meist verbringe ich meine Pausen mit John. Mit ihm verstehe ich mich von allen aus der Küche am besten. Heute sind Maike und Charlotte aus dem Service dabei. 

»Was habt ihr denn gesagt?«, frage ich neugierig. 

Charlotte ist anzusehen, wie unangenehm es ihr ist. Jeder weiß, was sie gesagt hat. Sie traut sich nie, ehrlich zu sein und sagt immer, es wäre gut. 

Maike grinst. »Ungewöhnlich«, antwortet sie. Das ist ihre Standardantwort, wenn es ihr nicht schmeckt und sie ein Testurteil abgeben muss. 

»War ja klar«, antworte ich grinsend und drehe mich zu John. »Was hast du gesagt?« 

Sein Grinsen wird breiter. »Ich habe es als Brokkolisandwich mit zäher Käsefüllung bezeichnet.« 

Ich pruste los. »Oh Gott, das hat ihm sicher nicht gefallen. 

»Nicht wirklich, aber exotisch finde ich auch gut.« 

Ich lächle. »Mir fiel kein anderes Adjektiv ein, was die Abscheulichkeit ausdrückt, dabei aber nicht kritisch ist.« 

»Egal, das landet sowieso nicht auf der Karte. Spätestens, wenn sein Manfred ihm die Wahrheit sagt, ist das vergessen.« 

Ich nicke zustimmend. 

Manfred ist der einzige Mensch, der sich traut Eduard die Wahrheit unverblümt an den Kopf zu knallen. Als Eduards Lebensgefährte ist er dafür auch privilegiert. Leider ist er nie der Erste, der Eduards Kreationen probiert, sonst würden uns so einige Kuriositäten erspart bleiben. 

Ich muss allerdings zugeben, dass ihm hin und wieder richtige Leckereien gelingen, die dann auf der Karte landen. Für meinen Geschmack sind diese Geschmacksexplosionen viel zu selten. 

Wie aus dem Nichts taucht unser Azubi Josef auf. Seine Miene ist ernst. Er schaut von einem zum anderen und bleibt bei mir hängen. 

»Was ist los?«, frage ich. 

»Der Chef …«, stammelt Josef. 

»Was ist mit ihm?«, erkundigen John und ich uns wie aus einem Mund. 

»Er hatte einen Unfall.« 

»Was er war doch gerade noch …«, sage ich und deute mit der Hand in Richtung Gebäude. 

»Ja, als ihr rausgegangen seid, war er im Büro und ist auf die Leiter gestiegen …« 

»Auf das alte Holzteil?«, unterbreche ich ihn. 

»Und?«, hakt Maike nach. 

»Sie ist unter ihm zusammengebrochen und er ist gestürzt.« 

»Oh mein Gott«, quietscht Charlotte. 

»Wie geht es ihm?«, erklingt meine Stimme piepsend. 

»Die Sanitäter sind gerade bei ihm.« 

Ich nicke. 

Josefs Blick hält mich gefangen. 

Ich spüre, dass er mir etwas sagen will, was mir nicht gefallen wird. 

»Du sollst ihn vertreten«, sagt Josef leise. 

»Was?«, frage ich mit einer Stimme, die mir fremd vorkommt. »Ich?« 

»Ja, du sollst ihn vertreten, bis er aus dem Krankenhaus zurück ist.« 

»Ist er noch drin?«, erkundige ich mich. Statt auf Josefs Antwort zu warten, bin ich schon auf dem Weg ins Gebäude. 

»Wo ist er?«, rufe ich, als ich die Küche betrete. 

Eileen, eine der Küchenhilfen deutet mit dem Kopf auf das Büro. 

Ich haste hinein. 

Eduard liegt auf dem Boden und stöhnt. Vor ihm hocken zwei Sanitäter. 

»Wie geht es dir?«, frage ich. 

Eduard schaut zu mir auf und zuckt mit den Schultern. »Du musst mich vertreten! Du bist die Einzige, der ich vertraue.« 

Das erste Mal, seit ich ihn kenne, ist seine Stimme leise. Na ja, eigentlich spricht er in einer normalen Lautstärke. Für seine Verhältnisse ist es aber leise. 

Ich starre ihn mit offenem Mund an. »O-Okay«, stammle ich. Zu mehr bin ich nicht in der Lage. »Wie lange muss unser Chef im Krankenhaus bleiben?«, wende ich mich an die Sanitäter. 

»Das können wir Ihnen noch nicht sagen«, antwortet der eine, während sie Eduard auf die Trage hieven. 

»Soll ich Manfred informieren?«, hake ich nach. 

Eduard schlägt sich eine Hand gegen die Stirn. »Ja, das wäre toll. Aber Maja?« 

»Ja?« 

»Bitte bring es ihm schonend bei! Er soll sich nicht aufregen!« 

»Okay, das mache ich«, antworte ich und schaue dem Küchenchef und den Sanitätern nach, wie sie das Büro verlassen. 

Ich starre eine Weile auf die Tür, um die Informationen zu verarbeiten. Es ist schwer zu begreifen, dass Eduard nun auf unbestimmte Zeit nicht in der Küche sein wird. Seine Worte wollen mein Gehirn nicht so recht erreichen. Er hat mir nie gesagt, was er von mir hält. Ich hätte nie gedacht, sein Vertrauen zu genießen. Er hat mich immer genauso streng behandelt, wie alle anderen. Seine Worte schmeicheln mir und schockieren mich gleichzeitig. 

Nach einigen Minuten fange ich mich endlich und eile zum Schreibtisch. Manfreds Nummer ist in der Adresskartei auf dem Tisch. Ich suche die richtige Seite heraus und wähle seine Handynummer. 

Leseprobe - "Tausche Hüftgold gegen Liebe"

1. Serena
»Huhu Serena«, erklingt eine vertraute Stimme.
Ich zucke zusammen und drehe mich um, dann entdecke ich meine beste Freundin Isabell. Sie eilt über die Straße auf mich zu. Ihr Haar weht im Wind. Die meisten Leute, speziell die Männer, schauen ihr nach. Sie hat eine lange blonde Mähne und blaue Augen. Isi ist bildschön und besitzt eine fantastische Figur. Sie kann essen, was sie will, ohne ein Gramm zuzunehmen. Im Gegensatz zu mir.
Ich brauche Essen nur anzuschauen und schon sind meine Hüften stärker gepolstert. Und umso mehr ich zunehme, desto frustrierter werde ich. Aus Frust stopfe ich immer mehr in mich hinein. Es ist ein Teufelskreis, aus dem ich mich einfach nicht befreien kann. So oft habe ich es mit Diäten versucht und sogar mit Sport angefangen. Leider hielt ich nie lange durch. Sobald die Zahl auf der Waage stillsteht, kehrt die Frustration zurück und ich erhöhe die Kalorienzufuhr.
Wenn es wenigstens nur bei einem Stück Schokolade bleiben würde, aber bei mir muss es immer die ganze Tafel sein. Anschließend fühle ich mich mies, der Heißhunger ist noch da und ich stopfe weiterhin sinnlos Essen in mich hinein. Mit jedem Bissen sinkt meine Hemmschwelle. Erst, wenn ich kurz davor bin, mich zu übergeben, höre ich auf. Bis zu diesem Punkt dauert es bei mir inzwischen viel zu lange. An manchen Tagen nehme ich den Kalorienbedarf von einer Woche zu mir. Am nächsten Tag kommt die Reue. Sie ist so groß, dass ich mich kaum auf die Waage traue. Falls ich es schaffe, mich zu überwinden, fasse ich jedes Mal den Entschluss, nun endlich mit der Fresserei aufzuhören und eine Diät anzufangen. Nach spätestens drei Tagen geht alles wieder von vorne los. Das ist schon seit meinem 16. Lebensjahr so. Vorher war ich auch nie schlank, aber es war mir herzlich egal. Erst, als mein Interesse für Jungs da war, fing ich zwangsläufig an, mich mit meinem Gewicht zu befassen. Obwohl es so oder so hoffnungslos war. Grundsätzlich verliebte ich mich nur in die Typen, die sich für solche Mädchen wie Isi interessierten.
Inzwischen bin ich 33 Jahre alt und hatte noch nie einen Freund. Ich bin tatsächlich noch Jungfrau. Und ja, es ist mir peinlich, aber die Dinge sind, wie sie sind. Ich kann es nicht ändern. Andere Frauen in meinem Alter haben längst eine Familie gegründet. Für mich wird es immer ein Traum bleiben. Dabei wollte ich seit ich denken kann mindestens zwei Kinder bekommen.
Isabell hat auch noch keine Familie, aber sie ist näher dran. Immerhin hat sie schon den passenden Mann. Sie ist seit drei Jahren mit Alex zusammen. Die beiden wollen zusammenziehen und befinden sich zurzeit auf Wohnungssuche. Das scheint sich schwierig zu gestalten. Entweder sind die Wohnungen viel zu teuer oder sie gefallen einem von ihnen nicht.
Isi würde es ja am besten finden, wenn Alex bei ihr einzöge. Das Problem ist nur, ihre Wohnung ist eindeutig zu klein. Für Alex würde der Platz noch reichen, aber er könnte nichts von seinen Sachen mitbringen. Selbst für Isis Kram wird es allmählich eng. Die Wohnung von Alex ist zwar ein bisschen größer, für die beiden dennoch zu klein und sie gefällt meiner Freundin nicht. Das Schlimmste für sie ist, dass es keinen Balkon gibt. Das Bad ist ihr auch viel zu winzig. Isabell kämpft eben immer mit ihren Luxusproblemen. Diese Probleme hätte ich nur allzu gern. Das würde bedeuten, ich hätte jemanden an meiner Seite, der mich liebt.
Manchmal bin ich total neidisch auf Isi, aber ich gönne ihr von ganzem Herzen ihr Glück. Sie ist seit der ersten Klasse meine beste Freundin. In all den Jahren hat sie immer zu mir gehalten. Allerdings ist sie sehr direkt. Das kann ziemlich wehtun, besonders wenn es um mein Gewichtsproblem geht. Sie hat mir oft versucht zu helfen, doch ich blocke grundsätzlich alles ab, was mit Essen und Sport zu tun hat. Diese Kämpfe trage ich lieber heimlich aus.
Ihren Verkupplungsaktionen versuche ich genauso, auszuweichen. Isabell verschaffte mir mehrere Dates mit irgendwelchen Typen, auf die ich gerne verzichtet hätte. Keiner von ihnen interessierte sich je für mich. Sie glaubten wohl, ich würde so aussehen wie Isi und waren am Ende umso mehr enttäuscht, als sie mich sahen.
»Wartest du schon lange?«, fragt Isabell. Als sie den Kuchen vor mir sieht, nickt sie und gibt sich dadurch selbst die Antwort.
Ich lächle verlegen und schaufle mir ein weiteres Stück Schokoladenkuchen in den Mund. Schließlich war das Treffen im Straßencafé ihre Idee.
»Ich habe mich so beeilt, aber Alex kam zu spät zur Wohnungsbesichtigung und deshalb hat sich alles nach hinten verschoben. Du weißt ja, wie wichtig es für uns ist, endlich eine Wohnung zu finden.«
»Und? War es dieses Mal eure Traumwohnung?«, frage ich mit vollem Mund.
»Oh nein, ganz sicher nicht. Das Bad hat die Größe einer Abstellkammer. Es ist noch kleiner als das von Alex. Bis zu der Besichtigung hatte ich keine Ahnung, dass dies möglich ist.« Sie zwinkert mir zu.
Ich nicke nur. Was soll ich auch dazu sagen? Ich frage mich, ob die beiden es jemals schaffen werden, zusammenzuziehen. Mir kam schon der Gedanke, Isi könnte vielleicht noch nicht bereit dazu sein. Und ihr Unterbewusstsein teilt ihr das mit, indem ihr keine der Wohnungen gefällt. Ich weiß, das klingt total verrückt. Deshalb habe ich mich bisher nicht getraut, es ihr zu sagen. Mit jeder abgelehnten Wohnung wird die Versuchung größer, meine Vermutung laut auszusprechen. Da ich meine Freundin lange genug kenne, weiß ich, sie würde ausrasten. Das ist die einzige Motivation, meine Klappe zu halten. Im Streit fällt es mir besonders schwer, mich in Zurückhaltung zu üben.
»Einen Kaffee und einen kleinen Erdbeereisbecher ohne Sahne, bitte«, ruft Isi der Kellnerin zu. »Und du isst heute schon wieder Kuchen«, stellt sie überflüssigerweise fest und rümpft die Nase.
»Irgendein Laster braucht der Mensch schließlich«, verteidige ich mich.
»Aber doch keinen Kuchen!« Ihre Mundwinkel zucken. »Warum versuchst du es nicht mal mit Sport oder noch besser mit Sex? Das macht Spaß und ist garantiert kalorienfrei.« Sie prustet los.
Ich verdrehe die Augen. Als ob Isabell nicht wüsste, wie sehr ich Sport hasse. Und auch, dass ich trotz meines fortgeschrittenen Alters noch Jungfrau bin, ist ihr bekannt. Sie ist eine der wenigen, mit der ich dieses Geheimnis teile.
Sie lächelt mich liebevoll an. »Keine Sorge, auch für dich finden wir den passenden Deckel. In unserer Firma hat übrigens ein neuer Typ angefangen und er ist noch Single.« Isi zwinkert mir verschwörerisch zu. »Wollen wir nicht mal etwas zu viert …«
»Nein!«, protestiere ich energisch, bevor Isabell den Gedanken ausgesprochen hat. Ich weiß genau, worauf das hinauslaufen soll. Sie ist dabei einen neuen Verkupplungsversuch zu starten. »Du weißt, wie sehr ich das hasse. Ich muss alleine jemanden finden«, füge ich etwas freundlicher hinzu.
Die Kellnerin stellt wortlos den Kaffee und den Eisbecher ab und will gerade wieder verschwinden. »Ich hätte gern noch ein Stück«, sage ich hastig und deute auf meinen Teller.
Die Kellnerin lächelt mich an, aber es ist nur aufgesetzt. Schließlich muss sie zu allen Gästen freundlich sein. Ich weiß genau, was sie denkt. Es ist immer das Gleiche. Wenn sie könnte, würde sie mir sagen, dass ich fette Trulla nicht noch mehr fressen soll, weil ich meine Situation damit nur verschlimmere. Als ob ich das nicht selber wüsste.
Statt diese Worte laut auszusprechen, nickt sie nur und verschwindet.
Isi schaut mich streng an, sagt aber keinen Ton. Stattdessen löffelt sie ihre winzige Portion Eis.
Wir schweigen uns an.
Dann kommt die Kellnerin mit meinem Kuchen und stellt ihn wortlos vor mir ab. Dabei mustert sie mich mit einem frechen Grinsen.
»Wie willst du jemanden kennenlernen?«, fragt Isi, als wir wieder alleine sind.
»Keine Ahnung. Durch einen Zufall halt.«
»Aha. Und wie genau soll das gehen? Du verlässt das Haus doch nur, wenn ich dich dazu zwinge.«
»Jetzt übertreibst du aber!«, widerspreche ich.
»Stimmt, ich vergaß. Wenn es etwas zu essen gibt, kommst du freiwillig mit.«
Treffer versenkt.
Isabell hat keine Ahnung, was sie mit ihren Worten bei mir anrichtet. Sie bringt mich erst recht dazu, Trost im Essen zu suchen. Diese Seite finde ich an meiner Freundin abscheulich.
Es fällt mir schwer, meine Gefühle zu verbergen. Mir schießen die Tränen in die Augen, mein Blick wird immer verschwommener. Tröstend schaufele ich den Kuchen im Eiltempo in mich hinein. Wenig später ist mein Teller leer.
Am liebsten würde ich mir ein weiteres Stück ordern, aber ich sehe schon die Blicke der Kellnerin und höre Isabell einen ihrer dummen Sprüche aufsagen. Das kann ich jetzt nicht ertragen. Also verkneife ich es mir. Sobald ich zu Hause bin, werde ich mich am Kühlschrank zu schaffen machen und es nachholen.
»Mensch Serena, ich meine es doch nicht böse. Ich will nur, dass du endlich glücklich bist. Diese ganze Fresserei macht dich nur unglücklich. Lass uns zusammen ins Fitnesscenter gehen und einen Anfang für dein neues Leben machen. Nebenbei erstellen wir dir gleich einen Ernährungsplan. Weißt du was? Der Cousin von Alex ist Ernährungsberater. Du solltest dich mit ihm zusammensetzen.« Während Isabell ihren kleinen Vortrag hält, tätschelt sie meine Hand.
Ich schlucke und verdrehe gedanklich die Augen. In der Vergangenheit hat sie mir unzählige solcher Vorschläge unterbreitet. Bisher konnte ich alles abblocken, aber irgendwas sagt mir, dass sie sich dieses Mal nicht abwimmeln lässt. Sie scheint es todernst zu meinen. Einen Experten hinzuzuziehen, hat sie noch nie vorgeschlagen. Mich würde es kaum wundern, wenn sie mit ihm schon etwas ausgemacht hätte. »Das ist nicht nötig!«, versuche ich mich aus der Affäre zu ziehen.
»Natürlich ist es das! Morgen mache ich einen Termin bei ihm. Wir gehen zusammen da hin! Es wäre doch gelacht, wenn wir dich nicht an den Mann bringen könnten. Mit einem bisschen Tuning laufen dir die Kerle bald scharrenweise hinterher.
»Isi, bitte lass es gut sein! Es bringt sowieso nichts!«
Statt zu antworten, grinst Isabell mich an. Ich kenne dieses Grinsen genau. Es bedeutet, sie hat sich längst entschieden. Egal, was ich jetzt noch sage, ich habe keine Chance. Ich kann mir die Mühe sparen, ihr zu widersprechen.
Ich nehme einen Schluck von meinem Kaffee und hoffe insgeheim auf eine Gelegenheit, um aus der Nummer rauszukommen.

2. Isabell
Sie schließt die Wohnungstür auf und betritt den Flur. »Schatz, bist du da?«, ruft sie in seine Wohnung hinein. Wenig später erscheint ein verschlafener Alex. »Ja«, kommt die kurze Antwort gebrummt.
»Wie siehst du denn aus?«
»Ich habe geschlafen«, murmelt Alex kaum verständlich.
»Jetzt?« Isabell klingt empört.
»Ja, warum? Ist das verboten? Ich war total kaputt«, rechtfertigt er sich.
Isabell schnauft. Sie atmet tief durch. »Können wir Kasper anrufen?«
Alex schaut seine Freundin fragend an. Er wartet auf weitere Informationen. Als sie nichts mehr sagt, fragt er: »Warum?«
»Wegen Serena«, antwortet sie, als würde das alles erklären.
Alex reißt die Augen auf. »Und?«
»Langsam muss mal was bei ihr passieren. Wenn sie nicht bald die Kurve bekommt, frisst sie sich irgendwann tot. Kasper muss sie beraten.«
»Isabell!«, sagt Alex schockiert. »Ich dachte, Serena ist eine Freundin …«
»Ist sie ja auch, was meinst du, warum ich mir so viele Gedanken über sie mache?«
»Und dann sprichst du so über sie?« Alex atmet scharf ein. »Redest du von mir auch so, wenn ich nicht da bin?«
»Nein, aber du weißt doch, dass ich es nicht böse meine«, besänftigt sie ihn und gibt ihm einen schnellen Kuss auf den Mund.
»Weiß Serena darüber Bescheid oder ist das wieder so eine Aktion hinter ihrem Rücken?«
Isabell funkelt ihren Freund böse an. »Was glaubst du denn? Natürlich weiß sie Bescheid! Ich habe es ihr vorhin erzählt.«
»Hast du es ihr nur gesagt oder sie gefragt?« Alex grinst.
Isabell verzieht den Mund zu einer schmalen Linie.
»Also ist sie einverstanden?«, hakt er nach.
»Natürlich«, säuselt sie lächelnd.
Alex schaut sie misstrauisch an. In seinem Blick sind Zweifel zu erkennen. Er kennt seine Freundin gut genug, um nicht weiter auf der Sache herumzureiten. Isabell geht schnell an die Decke, wenn sie ihren Willen nicht bekommt.
Obwohl Alex Serena mag und er es kaum mit ansehen kann, wie sie wegen ihres Gewichts permanent behandelt wird, ist er zu erschöpft, um sich ihretwegen jetzt mit seiner Freundin anzulegen. »Na schön«, sagt er. »Aber ich kann Kasper erst übermorgen anrufen.«
Isabell schürzt die Lippen. »Warum?«
»Kasper ist bei einer Fortbildung. Er macht neuerdings nämlich auch Personal…« Alex bricht mitten im Satz ab, als ihm bewusst wird, was diese Information für Isabell bedeutet. Sie wird Serena nicht nur einen Termin zur Ernährungsberatung machen, sie wird ihre Freundin direkt zum Training anmelden.
»Das ist ja interessant und kommt genau zur richtigen Zeit. Dann kann Serena gleich mit ihm trainieren.«
Alex verzieht den Mund. Innerlich bittet er Serena um Verzeihung für das, was auf sie zukommen wird. Andererseits hätte Isi die Information auch direkt von seinem Cousin bekommen können. »Ja, vielleicht. Du solltest das vorher mit Serena absprechen. Es ist nicht gut, sie so zu überrumpeln«, gibt er zu bedenken.
Isabell nickt. Ihr Gesichtsausdruck sagt das Gegenteil. Sie hält sich mit ihren wahren Gedanken zurück, da sie weiß, was Alex von ihren Einmischungen hält. Würde sie mit Serena darüber sprechen, hätte sie Ausreden parat, um dem Training zu entkommen. Das kann Isabell nicht zulassen. Aus Erfahrung hat sie gelernt, dass es besser ist, ihre Freundin vor vollendete Tatsachen zu stellen. Sie ist sicher, Serena ist ihr tief in ihrem Inneren dankbar dafür.
Sie muss endlich etwas tun. Viel zu lange hat sie sich Zeit gelassen. Serena ist einer der liebsten Menschen, die sie kennt. Sie hat ein großes Herz und ist immer für andere da. Leider wird sie dadurch ausgenutzt. Wenn es um sich selber geht, steckt Serena ständig zurück und strengt sich kaum an. Dabei hat sie so ein schönes Gesicht. Sie könnte mehr aus sich machen und die Männer würden ihr zu Füßen liegen.
Ihr Gewichtsproblem stellt nicht das einzige Hindernis dar. Serena könnte sich auch ein bisschen hübscher stylen. Solange Isabell sie kennt, trägt Serena diesen komischen Topfschnitt. Früher hat sie ihn von ihrer Mutter verpasst bekommen und nun sorgt eine ältere Friseurin, die sich auf Omafrisuren spezialisiert hat, dafür, dass Serenas Haar so unvorteilhaft aussieht. Isabell versteht nicht, warum ihre Freundin nicht einfach den Friseur wechselt. Jeder, der in den Laden geht, kommt entweder mit einem Topfschnitt oder mit dauergewellten Haar wieder raus. Es ist beinahe so, als würde es in dem Salon nur die beiden Frisuren zur Auswahl geben. Die Friseurin steht kurz vor der Rente, sie wird sich jetzt keine neuen Fertigkeiten mehr aneignen. Sie wird bis zum Schluss an ihrem jetzigen Stil festhalten. Isabell ist der Meinung, sie könnte neunundneunzig Prozent der Kunden aus diesem Laden selbigem zuordnen.
Isabell ist fest entschlossen, ihre Freundin nicht nur bei ihrem Figurproblem behilflich zu sein. Sie wird ihr auch einen Friseurbesuch bei ihrer eigenen Friseurin schmackhaft machen, mit ihr shoppen gehen und ihr beibringen, sich richtig zu schminken.
Sie kann sich nicht erinnern, ihre Freundin jemals mit Make-up gesehen zu haben. Es mag schon sein, dass es Männer gibt, die auf den natürlichen Typ Frau stehen, das bedeutet aber nicht den kompletten Verzicht auf Kosmetikprodukte. So weit Isabell weiß, besitzt Serena nur einen Lippenstift, den sie zu besonderen Anlässen trägt. Diese wenigen Male im Jahr kann sie an einer Hand abzählen.
Isabell sieht die neue Serena bereits vor sich. Sie weiß, wie viel Arbeit vor ihr liegt, bis es so weit ist. Aber die Mühen werden sich lohnen.

Leseprobe - "Glück auf Spanisch"

1. Klara
»Wieso kommst du nicht eine Weile nach Spanien?«
Ich starre auf den Bildschirm und lese die Frage immer wieder. Meine Hände liegen auf der Tastatur. Sie warten darauf, eine Antwort einzugeben. Doch mein Kopf weiß nicht, was er ihnen befehlen soll.
»Hallo? Klara? Bist du noch da?«, tauchen die Worte auf dem Bildschirm auf.
»Ja«, tippe ich ohne weitere Erklärungen.
»Was hältst du von dem Vorschlag?«
»Das kann ich mir nicht leisten.«
»Ein Freund von mir hat ein Hotel. Da könntest du vielleicht ein paar Stunden am Tag arbeiten und im Gegenzug dort wohnen. Dann kannst du dein Spanisch aufbessern. Na, wie wäre es? Ich frage ihn nachher gleich.«
Pedros Vorschlag klingt verlockend. Dennoch zögere ich.
»Klara? Bist du noch da?«
»Ja.«
»Also, was ist? Kommst du?«
Mein Gehirn arbeitet noch an der Frage. Um Zeit zu gewinnen, gleiten meine Finger über die Tastatur und beginnen zu schreiben.
»Ich denke darüber nach und melde mich später wieder.«
Bevor eine Antwort kommt, klappe ich mein Notebook zu und gehe in die Küche.
Vor dem Kühlschrank bleibe ich gedankenverloren stehen und denke über Pedros Vorschlag nach. Ich bin drauf und dran zuzustimmen, bis mir einfällt, dass ich nicht einfach weg kann. So eine Reise sollte geplant werden, irgendjemand muss sich um das Haus, meine Blumen und um die Post kümmern. Es muss jemand sein, dem ich zu hundert Prozent vertrauen kann. Im Geiste gehe ich alle meine Bekanntschaften durch. Normalerweise hätte ich Simone gefragt. Doch sie ist vor einem halben Jahr wegen der Arbeit in die Schweiz gezogen. Zwischen uns liegen nun achthundert Kilometer. Es ist zu weit, um nach dem Rechten zu schauen.
Mir fällt niemand ein, den ich bitten könnte, sich während meiner Abwesenheit um alles zu kümmern.
Verzweifelt lasse ich mich auf einen der beiden Küchenstühle fallen. »Das war es dann wohl«, flüstere ich.
Das wäre auch zu schön gewesen. Um so länger ich über Pedros Vorschlag nachdenke, desto mehr gefällt er mir.
Wo kann man eine Sprache besser lernen, als in einem Land, in dem sie gesprochen wird?
Vor drei Jahren habe ich angefangen, Spanisch zu lernen. Ich kam gut voran. Irgendwann war mir die Theorie zu grau und ich meldete mich auf der Plattform »Sprich mit mir« an, erstellte ein Profil und hoffte, mit Spaniern in Kontakt zu kommen. Zur Sicherheit gab ich auch an, Englisch zu können. Anfangs zog ich jede Menge zwielichtige Typen an. Es ging so weit, dass ich mein Account schon löschen wollte, aber dann meldete sich Pedro. Er ist spanischer Anwalt und versucht über das Portal, sein Deutsch zu verbessern. Mit ihm tausche ich seit einem Dreivierteljahr täglich Nachrichten aus. Damit wir beide etwas lernen, schreiben wir abwechselnd in Deutsch und in Spanisch. Unsere Gespräche bedeuten mir viel. Pedro hat es geschafft, mir neue Hoffnung zu geben. Als mein Mann vor fünf Jahren bei einem Autounfall tödlich verunglückte, versank ich in ein tiefes Loch. Simone gab sich Mühe, mich dort rauszuholen. Irgendwann schaffte sie es. Ich entdeckte langsam die Freude am Leben wieder und begann jede Menge Sachen zu unternehmen, Neues auszuprobieren. Darunter war auch das Erlernen einer Sprache.
Als sie mir verkündete in die Schweiz zu gehen, drohte ich erneut den Halt zu verlieren. Zum Glück war Pedro da. Durch den Austausch der Nachrichten fing er mich auf.
Mit Simone schreibe ich mir regelmäßig. Anfangs schrieben wir uns täglich, nun sind es noch ein bis zwei Mal in der Woche. Ich befürchte, es könnte irgendwann ganz aufhören.
Simone hat sich inzwischen in der Schweiz eingelebt und besitzt ihr eigenes Leben. Sie hat sogar jemanden kennengelernt, mit dem sie frisch zusammen ist. Ich wünsche ihr natürlich von Herzen alles Gute, allerdings hege ich meine Zweifel. Meine Freundin hat den Hang dazu, sich mit den falschen Männern einzulassen. Erst sieht sie alles durch die rosarote Brille, sobald sie diese absetzt, beginnt das große Heulen.
Woher weiß ich eigentlich, ob Pedro echt ist?, schießt mir plötzlich die Frage durch den Kopf.
Auf dem hinterlegten Profilbild sieht er nett aus, aber eine Garantie, dass er das ist und es ihn tatsächlich gibt, habe ich nicht.
Hastig erhebe ich mich und sprinte zurück zu meinem Schreibtisch, klappe mein Notebook auf, öffne die Suchmaschine und gebe den Namen Pedro Sanchez ein. Es gibt viele Treffer, also füge ich den Begriff Anwalt hinzu. Es dauert nicht lange und ich werde fündig. Ich entdecke einen Anwalt namens Pedro Sanchez und hoffe, es handelt sich dabei auch um den Mann, mit dem ich mir schreibe.
»Judith!«, sage ich.
Judith könnte sich hier um meine Angelegenheiten kümmern.
Ich kenne sie zwar noch nicht so lange, aber sie ist vertrauenswürdig.
Wir lernten uns vor anderthalb Jahren in einer Gruppe für Trauerbewältigung kennen und verstanden uns auf Anhieb. Bereits nach kurzer Zeit trafen wir uns auch außerhalb der Gruppentreffen.
Ich wühle mich durch die Unterlagen auf meinem Schreibtisch, auf der Suche nach meinem Handy.
»Verdammt! Es muss doch irgendwo hier sein!«, fluche ich und nehme mir zum wiederholten Male vor, endlich aufzuräumen. Insgeheim weiß ich, es wird noch ewig dauern, eh ich mich dieser Aufgabe tatsächlich widme.
Nach einigen Minuten habe ich mein Handy gefunden und schreibe Judith eine Nachricht über WhatsApp, sie soll mir mitteilen, wann sie Zeit für ein Treffen hat. Ich möchte unbedingt persönlich mit ihr reden, nicht per Telefon.

2. Pedro
»Ist der Chef da?«, frage ich, als ich das Hotel betrete.
»Er müsste in seinem Büro sein«, antwortet Paula, eine der Rezeptionistinnen. Sie lächelt mich freundlich an.
Ich nicke ihr zu und gehe durch die Hotellobby zum Büro meines Freundes.
»Mig, bis du da?«, rufe ich, nachdem ich angeklopft habe. Es kommt keine Reaktion.
Ich drücke die Türklinke nach unten, die Tür ist verschlossen. Wie bestellt und nicht abgeholt stehe ich da und überlege, was ich machen soll.
Bevor ich mir den Kopf weiter zerbrechen kann, kommt Miguel um die Ecke. »Pedro, was machst du denn hier?«, fragt er verwundert. Normalerweise rufe ich an, eh ich vorbei komme.
»Ich wollte dich mal wieder besuchen«, antworte ich.
»Na dann, komm mit rein!« Miguel schließt sein Büro auf und geht hinein. Ich folge ihm. »Setz dich! Willst du etwas trinken?«
»Nein, das muss nicht sein.« Ich nehme auf einem der Besucherstühle Platz und starre meinen Freund an.
»Wie geht es dir? Wir haben uns ja schon eine Weile nicht mehr gesehen?« Miguel schaut mich prüfend an. Er scheint zu wissen, dass es sich um keinen reinen Freundschaftsbesuch handelt.
»Gut. Und dir?«
»Mir auch. Also was gibt es?«
»Ist das so offensichtlich?«
»Ja.«
»Also …«, druckse ich herum. »Es geht …«
»Um eine Frau?«, fragt er direkt.
»Ja, woher weißt du das?«
»Ich kenne dich eben.« Miguel grinst. »Also worum geht es genau?«
»Ähm … Hast du gerade Jobs zu vergeben?«
»Für wen? Und als was?«
»Keine Ahnung. Vielleicht irgendwas an der Rezeption, oder so?«
»Hm, eigentlich suche ich am Empfang niemanden, zumindest nicht fest, wenn dann nur als Aushilfe. Warum?«
»Eine Freundin …!«
»Eine Freundin? So so.« Das Grinsen in Miguels Gesicht wird immer breiter.
»Sie kommt aus Deutschland, hat eine harte Zeit hinter sich und ich habe sie gefragt, ob sie für eine Weile nach Spanien kommen will. Nur so ganz ohne Job schafft sie es nicht. Deshalb dachte ich, sie könnte vielleicht bei dir arbeiten und dafür ein Zimmer bekommen.«
»Sie soll hier wohnen?«
»Ja. Du hast doch einige Unterkünfte für Angestellte.«
»Was kann sie denn? Ich meine, was macht sie sonst so?«
»Sie ist Autorin.«
»Okay, ich verstehe. An die Rezeption lasse ich nur Leute mit Sprachkenntnissen. Deutsch ist ja schon mal gut. Das alleine reicht mir nicht. Kann sie …«
»Ja, sie spricht fließend Englisch und hat vor einiger Zeit angefangen, Spanisch zu lernen. Sie kann es nicht perfekt, ist aber in der Lage, sich gut zu verständigen. Mit dem Aufenthalt hier will sie ihre Sprachkenntnisse verbessern.«
»Okay, ich kann sie mir gern anschauen.«
»Sorry, aber das reicht nicht. Ich kann ihr schlecht sagen, sie soll für ein Vorstellungsgespräch herkommen.«
»Was erwartest du jetzt von mir? Eine Zusage, obwohl ich sie nicht kenne?«
»Ja«, antworte ich und schaue meinen Freund flehend an.
»Mensch Pedro, was ist, wenn ich sie nicht gebrauchen kann?«, sagt Miguel aufgebracht. Privat ist er ein guter Freund und würde für andere sein letztes Hemd geben. Im Geschäftlichen ist er knallhart. Wahrscheinlich muss er das auch, damit das Hotel läuft.
»Ach komm, irgendwas wird sich schon finden. Küchenhilfe, Zimmermädchen oder so etwas in der Art. Du bist doch sonst immer auf der Suche nach gutem Personal.«
»Ist sie denn gut?«
»Bestimmt!«, antworte ich. Gleichzeitig hoffe ich, mich damit nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Ich bin Klara noch nie begegnet. Alles, was ich über sie weiß, hat sie mir geschrieben. Bisher chatteten wir nur. In den vielen Gesprächen habe ich sie lieb gewonnen und möchte sie unbedingt sehen.
»Ich kann es gerne mit ihr versuchen, aber wenn sie zu nichts zu gebrauchen ist, musst du dir etwas anderes einfallen lassen«, sagt Miguel nach einer Weile.
»Super, das vergesse ich dir nie.«
»Sie ist Autorin, sagst du? Ist sie so schlecht oder warum kann sie davon nicht leben?«
»Klara verlegt ihre Bücher selber.«
»Also ist sie schlecht.«
»Nein, sie hat mir gesagt, dass sie beim Marketing ihre Schwierigkeiten hat. Ein Verlag kommt für sie auch nicht infrage, weil sie keine Lust hat, sich dem Mainstream anzupassen. Sie hat ihren eigenen Stil. Da sie es hasst, Werbung zu machen, hat sie nur wenige Fans und verkauft eine dementsprechend kleine Anzahl Bücher.«
»Ah ja, ich verstehe.« Miguel ist anzusehen, was er über Klaras Schreiberei denkt, dabei kennt er sie nicht und hat noch nie etwas von ihr gelesen. Gut, ich kenne auch keines ihrer Werke, aber so wie sie im Chat schreibt, müssen ihre Bücher einfach gut sein.
Mit meinem alten Freund will ich nicht weiter darüber diskutieren. Nachher überlegt er sich das mit dem Job noch anders. Das ist mir zu riskant.
»Also kann ich ihr sagen, dass es klappt?«
»Ja, von mir aus. Warum arbeitet sie eigentlich nicht bei dir in der Kanzlei?«
»Weil ich zu wenig Arbeit habe. Meine Sekretärin kann ich schlecht entlassen, um Klara einzustellen.«
»Ich verstehe. Ab wann soll das Ganze stattfinden?«
»Gute Frage. Ein genauer Termin steht noch nicht fest. Um ehrlich zu sein, habe ich ihr gestern erst den Vorschlag unterbreitet.«
»Das heißt, du weißt nicht, ob sie überhaupt kommt?«
»Ja, genau. Sobald ich etwas Genaueres weiß, melde ich mich bei dir.«
»Gut, mach das! War es das oder gibt es sonst noch etwas? Ich müsste nämlich weitermachen.« Miguel deutet auf den Stapel Papier, der auf seinem Schreibtisch liegt.

Leseprobe - "Spuren der Korruption"

1. Anina
»Ja«, jubele ich flüsternd, als ich das Büro des Personalchefs der Versicherungsgesellschaft verlasse. Mit einem breiten Grinsen schlendere ich aus dem Gebäude. Ich kann nicht glauben, den Job bei der RVVG - Regionale Volksversicherungsgesellschaft - so einfach bekommen zu haben. Innerlich hatte ich mich auf eine Ablehnung eingestellt. In den letzten Wochen brachte ich ein Vorstellungsgespräch nach dem anderen hinter mich. Anschließend hagelte es Absagen. Ich hatte die Hoffnung der Arbeitslosigkeit zu entfliehen fast aufgegeben. Umso glücklicher bin ich über die neue Arbeitsstelle. Das Einzige, was mich an dem Job stört, ist die Aussicht nur im Außendienst tätig zu sein. Das heißt, ich muss zu den Kunden fahren. Ich weiß, wie aufgeregt ich vor dem ersten Termin sein werde. Immerhin hatte ich bisher keine Außentermine gehabt. Im Gegenteil, die Leute kamen zu mir, wenn sie etwas wollten. Es war leicht, Umsatz zu generieren. In meinem alten Job gehörte ich zu den Besten. Dennoch wurde ich vor einem Vierteljahr aus einem scheinheiligen Grund entlassen. Angeblich wurden nicht mehr so viele Mitarbeiter gebraucht. Das glaube ich weniger. Warum sonst hatten sie vielmehr Lehrlinge eingestellt, als in den Jahren zuvor? Sie wollten Kosten einsparen, indem sie Vollzeitkräfte gegen günstige Berufseinsteiger austauschten. Sobald sie ausgelernt sind, werden sie gekündigt. Solange dürfen sie die Aufgaben erledigen, die sonst keiner machen will. Ich muss es wissen, auch ich machte meine Ausbildung dort und schloss sie vor einem Dreivierteljahr ab. Seit meiner Entlassung war ich auf der Suche nach einer Festanstellung. Ich hatte einige Angebote, auf Provisionsbasis zu arbeiten. Doch ich brauche die Sicherheit eines festen Einkommens. Nur von der Provision zu leben, ist mir zu unsicher. Meinen Vermieter würde es kaum interessieren, wenn ich einen schlechten Monat hätte und ich die Miete nicht bezahlen könnte. Also lebte ich das letzte Vierteljahr übergangsweise vom Staat und freute mich, mir durch den neuen Job die Gänge zu den Ämtern zu ersparen. Es kostete mich eine Menge Mut, dort hinzugehen und um Geld zu betteln. Nun musste ich mich nur überwinden, zu den Kunden zu fahren, um bei ihnen die Verkaufsgespräche zu führen.
Noch immer lächelnd erreiche ich den Parkplatz der RVVG. Ich gehe zu meinem Wagen und steige ein. Nachdem ich den Motor gestartet habe, schalte ich das Radio ein und stimme lautstark in den Song ein, der gerade läuft. Überglücklich fahre ich nach Hause. Im Hinterkopf bleibt die Angst vor dem kommenden Tag, vor meinem ersten Arbeitstag. Von dem Personalchef weiß ich, dass ich gleich sieben Termine an diesem Tag haben werde. Noch bin ich ruhig, aber spätestens am nächsten Morgen wird die Aufregung größer sein als die Freude. Da bin ich mir sicher. Dabei brauche ich die Kunden nicht alleine besuchen. Ein Kollege soll mich in den ersten Wochen begleiten und einarbeiten, damit ich den Ablauf kennenlernen und mich mit den Produkten vertraut machen kann. Viel muss ich also noch nicht tun. Solange ich nicht weiß, mit wem ich die ersten Tage unterwegs sein werde, ist es schwer, mich zu beruhigen. Bis jetzt kenne ich nur den Namen meines Begleiters. Er heißt Julian Flisch. Der Name klingt nach einem jungen Mann. Über seinen Charakter verrät er mir nichts. Insgeheim hoffe ich auf einen netten Kollegen, mit dem ich gut auskomme. Es wäre kaum auszuhalten, wenn es jemand ist, mit dem ich mich überhaupt nicht verstehe.

2. Knoll
Ich schlendere über den Flur zum Büro meines besten Mitarbeiters. Nachdem ich angeklopft habe, öffne ich, ohne auf eine Reaktion zu warten, die Tür so weit, dass mein Kopf hindurchpasst.
Julian Flisch sitzt an seinem Schreibtisch und ist in die Arbeit vertieft. Er hat mein Klopfen nicht bemerkt.
»Julian!«
»Ja.« Flisch zuckt zusammen und schaut zu mir.
»Ab Morgen haben wir eine neue Mitarbeiterin. Sie heißt Anina Geiger. Ich möchte, dass du sie einarbeitest.«
»Okay, das mache ich doch gern. Wie ist sie so?«
»Sie ist ganz nett, sonst hätte ich sie ja nicht eingestellt. Na ja, ein bisschen naiv scheint sie zu sein.«
»Das ist doch gut, oder nicht?«
»Sicher. Du solltest trotzdem vorsichtig sein, bis wir sie besser einschätzen können. Also lass sie möglichst nicht aus den Augen!«
»Geht klar, Detlef.«
Ich schließe seine Bürotür und gehe zurück in mein Büro. Dabei überlege ich, ob ich mit der Anstellung von Frau Geiger die richtige Entscheidung getroffen habe oder es zu voreilig war. Der Gedanke an ihre Probezeit beruhigt mich. Ich kann sie jederzeit entlassen, falls sie keine Leistungen bringt. Schließlich erwarten unsere Vorgesetzten in der Zentrale Höchstleistungen von uns. Das können wir nur schaffen, wenn wir ein gutes Team sind.